Referent: PD Dr. Hüseyin Ağuiçenoğlu
Ausbildung alevitischer Lehrkräfte an der Universität Hamburg
Die Vereinbarung zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und den Religionsgemeinschaften zur Weiterentwicklung des „Religionsunterrichts für alle“ machte auch eine Anpassung der Ausbildung der Religionslehrkräfte erforderlich. Als erstes wurden daher ab 2014 neben der schon bestehenden Lehramtsausbildung in evangelischer Theologie grundständige Studiengänge für das Lehramt an der Primar- und Sekundarstufe I (LAPS) in katholischer, islamischer und alevitischer Religion eingerichtet. Die Hamburger Lehramtsstudiengänge umfassen mehrere Curricularbereiche und enthalten Anteile aus der Erziehungswissenschaft einschließlich der in Hamburg hier grundsätzlich angesiedelten Fachdidaktik und Anteile aus dem fachwissenschaftlichen Studium der beiden Unterrichtsfächer. Sie bestehen aus „Teilstudiengängen“, die sich aus einem sechssemestrigen BA-Studium und einem viersemestrigen Masterstudium zusammensetzen und durch eigene fachspezifische Bestimmungen geregelt sind. Die ersten Absolventen der im Wintersemester 2015/16 eingeführten Teilstudiengänge der Primar- und Sekundarstufe I in „Alevitischer Religion“ und „Islamischer Religion“ beendeten ihr Studium im Jahr 2020. Seit dem Wintersemester 2020/21 wird gleichzeitig ein Studium für das Lehramt an Grundschulen (LAGS) angeboten.
Referentin: Gülten Erenulug
Alevitische Religionsunterricht im Alltag
„Der ARU war das Beste, was mir passieren konnte. Ich bin so dankbar! Ich werde auf jeden Fall später auch Alevitischen Religionsunterricht erteilen.“ Diese Aussage stammt von meiner ehemaligen Schülerin, die in diesem Semester ihr Lehramtsstudium begann. Sie will Grundschullehrerin werden und ihren Schüler*innen das weitergeben, was sie selbst als Grundschülerin im ARU erlebte.
Der Prozess der persönlichen Identitätsfindung beginnt bereits unbewusst im Kleinkindalter, mit zunehmendem Alter und Begegnungen in der Lebenswelt der Kinder findet dieser Prozess immer bewusster statt. Der Alevitische Religionsunterricht bietet Raum für diesen Prozess. Alevitische Schüler*innen begegnen in ihrem Schulalltag Schüler*innen mit unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten, insbesondere dem Christentum und dem Islam. Feier- und Gedenktage, Verbote sowie Gebote anderer Religionen werden für die Schüler*innen durchaus zum Thema von Begegnung und Auseinandersetzung. Der ARU bildet das Fundament alevitischer sowie humanistischer Lehre und festigt die eigene Identität, allerdings kämpfen wir um jede*n Schüler*in, damit die ARU-Kurse erhalten bleiben.
Referentin: Şenay Malkoç (Ana)
Die Begleitung des deutschsprachigen Jugend-Cem für den Alevitischen Religionsunterricht in Deutschland
Aufgrund der Beobachtung, dass alevitische Jugendliche und teilweise auch Erwachsene die alttürkische Sprache in der Cem-Gottesandacht nicht verstehen, entstand die Idee für eine deutschsprachige Cem-Gottesandacht. Durch Rücksprache mit dem ARU-Lehrer*innen, werden seit einiger Zeit Jugend-Cem in deutscher Sprache durchgeführt, wobei die zentralen Begriffe in der Originalsprache bleiben. Methodisch greifen die Jugend-Cem die Themen aus dem ARU auf und eröffnen einen Raum für eine jugendgerechte Sprache, Interpretationen und Alltagsbezogenheit. Mit Hilfe des Erlernten im ARU findet eine interessante Wissensvermittlung in Richtung der Eltern statt, so dass die Kinder ihren Eltern das Vergessene wieder in Erinnerung rufen bzw. ihren Glauben näherbringen. Denn oftmals konnten die Eltern ihren Glauben in einem familiären Kontext oder Schulkontext selbst nicht erlernen.
Referent: Aliekber Erden (Dede)
Ein Einblick in die Erwartungen der Geistlichen und Familien an den ARU in Deutschland
Da alevitische Geistliche (Dede/Ana) traditionell den Familien sozial und religiös zur Seite stehen, ergeben sich auch Gesprächssituationen, in denen sie um Ratschläge gebeten werden. Neben familiären Problemen taucht seit einiger Zeit verstärkt die Nachfrage nach religiöser Bildung auf, um alevitische Kinder und Jugendliche bei der Identitätsfindung zu unterstützen. Familien berichten von Diskriminierungserfahrungen ihrer Kinder und dem Konvertierungsdruck in der Schule sowie im Freundeskreis. Durch das aufkommende Interesse ihrer Kinder explizit am sunnitischen oder schiitischen Islam, möchten sie sich bei den Geistlichen mehr über den ARU informieren. Aus der Elternperspektive könnte ein flächendeckendes ARU-Angebot und die religionspädagogische Vermittlung des eigenen Glaubens den zunehmenden Konvertierungsversuchen von islamisch geprägten Gruppen entgegenwirken. Sowohl alevitische Eltern als auch alevitische Geistliche sehen in dem ARU ein wichtiges Potential zur religiösen Wissensvermittlung, da es nicht in Familien- und Gemeindekontexten selbst geleistet werden kann.
Referent: Ismail Kaplan
Entstehungsprozess des Alevitischen Religionsunterrichts (ARU)
Mitte/Ende der 1980er Jahre wurden Assimilierungszeichen alevitischer Kinder in Deutschland sichtbar. Den eigenen Kindern das Alevitentum zu vermitteln, war u. a. ein Hauptgrund der Organisierung der Alevit: innen gegen Ende der Achtziger Jahre. Die Akteure in den alevitischen Gemeinden waren überwiegend Alevit: innen, die in der Türkei aufgrund des verpflichtenden sunnitischen Religionsunterrichts gegen den Religionsunterricht waren. Um eine gewisse Anerkennung des alevitischen Religionsunterrichts zu schaffen, war es nötig, in den Gemeinden für die konstruktiven Seiten eines eigenen Religionsunterrichts zu werben.
Wir waren Anfang des Millenniums vor einer großen und schwierigen Aufgabe, einen Lehrplan für den ARU zu konzeptualisieren. Für das Alevitentum einen Lehrplan zu entwickeln war einmalig. Der Lehrplan sollte inhaltlich so erstellt werden, so dass er von allen alevitischen Traditionen (sürek) inhaltlich akzeptiert wird. Um den ARU 2002 in Berlin und 2006 in Baden- Württemberg einführen zu können, mussten ausreichend Schüler: innen in den Grundschulen sowie Lehrkräfte zusammengebracht werden. Im Jahr 2012 war die AABF soweit, dass der ARU an den Grundschulen in acht Bundesländern eingeführt wurde. In Nordrhein-Westfahlen wurde der ARU 2012 auch in der Sekundarstufe I eingeführt. Den Entstehungsprozess des ARU`s durfte ich als damaliger Bildungsbeauftragter der Alevitischen Gemeinde Deutschland von Beginn an gestalten und mitbegleiten.
Referent: Aziz Aslandemir
Herausforderung bei der Qualifizierung von Lehrkräften und der Erstellung von Lehrplänen
Die Diskussion um den Alevitischen Religionsunterricht (ARU) an deutschen Schulen begann bereits 1994, so dass der ARU 2002 zunächst in Berlin und später 2007-2008 in Baden-Württemberg realisiert wurde Die dafür erforderlichen Lehrer*innen wurden 2008 durch die Bezirksregierung Köln im Bundesland Nordrhein-Westfahlen qualifiziert. Das daraus hervorgegangene Moderatorenteam bildete wiederum weitere Lehrer*innen für den Alevitischen Religionsunterricht aus. Während bei der ersten Qualifizierung nur zwölf Personen teilnahmen, gibt es heute ca. 120 Lehrer*innen für den ARU, der in neun Bundesländern an öffentlichen Schulen erteilt wird.
Im Zuge dieses Prozesses kamen verschiedene Schwierigkeiten, wie z.B. das Fehlen von Lehrplänen, Unterrichtsmaterialien, erfahrenen Personen, aber auch logistische Entfernungen von Schulstandorten zum Vorschein. Trotz dieser Hürden wurde mit Hilfe von einigen alevitischen Lehrkräften und dem damaligen Bildungsbeauftragten der Alevitischen Gemeinden Deutschland e.V. 2004 der erste alevitische Lehrplan in Absprache mit dem Schulministerium in Nordrhein-Westfahlen erstellt und veröffentlicht. Dieser gilt als eine Orientierung für alle weiteren Lehrpläne in den verschiedenen Bundesländern, die länderspezifisch variieren können. In der Gegenwart hat sich die Situation durch Qualifizierungsangebote wie Zertifikatskurse und Studiengänge an der Pädagogischen Hochschule Weingarten sowie der Universität Hamburg etwas verbessert.
Referentin: Hazal Kaya
In der Vergangenheit verborgen, mittlerweile vernetzt- Der ARU in der Zukunft
Der Alevitische Religionsunterricht verschafft den Schüler:innen die Möglichkeit, eine alevitische Identität in einer nicht-alevitischen Umgebung zu entwickeln, alevitische Werte und Normen kennenzulernen, ihr Wissen zu ihrer eigenen Religion anzueignen, sich mit dem Alevitentum auseinanderzusetzen sowie einen geschützten Raum in der Schule zu erhalten und jegliche Fragen in der ARU-Klasse stellen zu können. Der Unterricht gibt den Schüler:innen Orientierung und Hilfestellungen auf der Suche nach einer eigenen Lebensausrichtung.
Die Schulen und die Eltern spielen eine wichtige Rolle, um den ARU zu etablieren. Zudem bilden sie auch die größte Herausforderung. Die Planung des Unterrichts in der Schule stellt ein organisatorisches Problem dar. Durch den stetigen Lehrermangel werden die alevitischen Lehrkräfte in der Zukunft unverzichtbarer. Manche Anmeldeformulare bieten die Konfession „alevitisch“ nicht an, sodass den Eltern nicht bewusst ist, dass sie ihre Kinder „alevitisch“ registrieren können. Viele fallen daher unter die Kategorie „Sonstiges“. Solange keine regulären Anmeldebogen bestehen, werden bedauerlicherweise nicht alle alevitischen Schüler:innen sowie die Familien über den ARU informiert und erreicht.